Brauchtum der Kanaren

Die Muttergottes auf Insel-Tour

Nur alle fünf Jahre feiert die Kanaren-Insel La Gomera ihre Heilige: die Virgen de Guadalupe. Am 9. Oktober holen sie die Gomeros wieder einmal mit einer großen Prozession aus ihrem Heiligtum in die Inselhauptstadt San Sebastián. Danach geht sie auf große Tour in sämtliche Gemeinden der Insel, wo man die Jungfrau jeweils mit einem eigenen Fest willkommen heißt. Erst Mitte Dezember kehrt die Marienfigur zurück in ihr einsam am Meer gelegenes Heiligtum. 

Eine Kulisse wie aus dem Bilderbuch: Vom blauen Himmel strahlt die Sonne. Von Ferne ragt der Teide, Teneriffas höchster Berg, aus einem kleinen Wolkenschleier. Davor kräuselt sich sanft das Meer, von dem ein leichter Wind übers Land streicht. Zwischen Felsen und Wasser glänzt ein weißes Kirchlein, dessen Wurzeln in die Mitte des 16. Jahrhunderts reichen. Gut zwei Dutzend Pilger singen und tanzen vor seinem Portal – eine fröhliche Gemeinschaft, der man ansieht, dass sie zu feiern versteht. 

Ihre Musik kommt nicht aus seelenlosen Lautsprechern, sondern von Herzen. Leidenschaftlich hauen die Männer in die Saiten ihrer Gitarren, während die Frauen ihre Kastagnetten klingen lassen. Dazu wird gesungen, man lobt die Virgen de Guadalupe, La Gomeras Nationalheilige. „Morenita de Puntallana“ nennen die Einheimischen die nur rund 25 Zentimeter hohe gotische Marienfigur, die meist wenig beachtet in ihrer kleinen Kapelle dicht am Meer steht.

Alle fünf Jahre aber wird sie zum Mittelpunkt des Insellebens, wenn die Gomeros sie Anfang Oktober in die Hauptstadt San Sebastián holen. Dann rückt die schlichte Madonna mit dem Jesuskind auf dem Arm ins Blickfeld der Insulaner. Über Wochen richten sich alle Augen auf sie, wenn sie kreuz und quer über die Insel tourt. „Bajada“ heißen die Spanier ihren Umgang, das größte Fest der Insel und inzwischen auch eine Touristenattraktion.

Mit einem geländegängigen Jeep ist das Inselfernsehen zum Wallfahrtskirchlein im Norden San Sebastiáns gekommen. Schließlich wollen die Gomeros zumindest am Fernsehgerät dabei sein, wenn ihre Muttergottes zur großen Tour aufbricht. „Viva la Virgen de Guadalupe!“, rufen die Mitglieder der Bruderschaft „Nuestra Señora de Guadalupe“, die sich ihr besonders verpflichtet fühlen. 

Überall Schiffsmodelle

Die kleine Muttergottes trägt inzwischen ihr goldbesticktes Festkleid. Ein Heiligenschein krönt die Jungfrau, eine Krone mit einem Kreuz den kleinen Jesus auf ihrem Arm. Überall in der Kapelle hängen Schiffsmodelle, kleine und große Boote. Votivgaben sind es, die Fischer und Matrosen hierher gebracht haben: zum Dank für die Errettung aus Seenot, aber auch anderen Notlagen, aus denen Marias Fürsprache geholfen hat. 

Fast jeder Insulaner, der ein Boot sein eigen nennt, taucht mittags in der kleinen Bucht vor der Wallfahrtskirche auf, um beim großen Moment dabeizusein, wenn die Bruderschaft ihre Muttergottes schultert und runter zum winzigen Hafen trägt. Dort geht sie an Bord eines Fischerboots. Schließlich knallen die ersten Feuerwerkskörper, hupen die Schiffssirenen. Die Stimme des Live-Reporters überschlägt sich, so enthusiastisch schildert er den Start der Bajada seinen Zuschauern und Zuhörern.

In der Inselhauptstadt, eine gute Bootsstunde vom Wallfahrtskirchlein entfernt, verfolgen die Menschen die Schiffsprozession im Fernsehen. Auch überall sonst auf Gomera sind die Augen jetzt auf die Jungfrau von Guadalupe gerichtet. Die Holzstatue stammt aus dem 16. Jahrhundert und wurde vermutlich im flämischen Mechelen geschnitzt. Das heutige Belgien stand damals unter Herrschaft der spanischen Krone.

Wie die Marienfigur den Weg auf die Kanarischen Inseln im Atlantik gefunden hat, weiß niemand zu sagen. Stattdessen erzählen die Einheimischen lieber die Legende, spanische Seefahrer hätten die Marienfigur auf dem Weg nach Amerika in einer Höhle auf der Insel entdeckt. Mehr wollen die Gomeros eigentlich auch gar nicht wissen, schließlich lebt die Bajada von diesen Mythen.

„Olé, Olé, Olé“

Im Hafen von San Sebastián warten derweil mehr als 10 000 Menschen auf die Ankunft der Muttergottes. Viele stehen im Wasser, spritzen sich immer wieder gegenseitig nass: ein beliebtes Volksspäßchen bei knapp 30 Grad. „Olé, Olé, Olé“ – mit Schlachtrufen und rhythmischem Klatschen verkürzen sich die Insulaner die Wartezeit, bis die Armada der Schiffe im Hafen landet. 

Von den Bergen, welche die Inselhauptstadt umranden, signalisieren Böller ihre Ankunft. Jetzt ist kein Halten mehr, drängen sich die jungen Männer und Mädchen im Wasser vor dem kleinen Boot mit der Jungfrau, die sie schließlich schultern und durch das Spalier der Neugierigen an Land bringen. Erstes Ziel ist das Rathaus, wo der Bürgermeister und andere Honoratioren die Gottesmutter willkommen heißen. Sie alle tragen Gala, Uniform oder Tracht. 

Von der Nachbarinsel Teneriffa ist wie üblich der Bischof gekommen, dessen Vorgänger 1968 entschieden hat, die Jungfrau nicht nur in der Hauptstadt La Gomeras zu empfangen, sondern sie auch auf Tour über die Insel zu schicken. Inzwischen ist das längst problemlos möglich: Mit EU-Geldern gebaute Straßen verbinden alle größeren Orte auf der Insel. Früher war das Schiff meist die einzige Verbindung, da Berge und Täler die Insulaner voneinander trennten. 

Christoph Kolumbus hatte auf seinem Weg nach Amerika in San Sebastián auf La Gomera, das Afrika näher liegt als Europa, Station gemacht, bevor er weiter über den Ozean fuhr. Den Brunnen, aus dem er angeblich zur „Taufe“ des amerikanischen Kontinents das Quellwasser schöpfte, zeigen die Gomeros bis heute gern. Am Festtag der Jungfrau aber ist die Geschichte vergessen. Jetzt zählt nur der Augenblick. 

Wie Weihnachten und Ostern zusammen

Für die Einheimischen ist die Bajada wie Weihnachten und Ostern zusammen. Vor allem aber ist es auch Erntedank. Schließlich liefert die Natur Wein, Obst, Gemüse und Kartoffeln. Bunt kostümierte Gomeros ziehen so am Festtag mit Flöten, Trommeln und Kastagnetten durch die Hauptstadt. Auf kleinen Wagen türmen sich Bananen, Maiskolben, Äpfel, Datteln und andere Früchte. Dazwischen stecken Wurst und Käse, Brot und Kuchen: die Marschverpflegung für den Festtag.

Nach dem offiziellen Empfang vor dem Rathaus ist die Bajada zum Triumphzug angeschwollen. In San Sebastiáns Hauptstraße ist kaum ein Durchkommen mehr. Nur langsam schiebt sich die Virgen de Guadalupe zur Kirche Nuestra Señora de la Asunción, dem schönsten Gottes­haus der Insel. Weit offen stehen die Türen der dreischiffigen Kirche, in der Kolumbus vor seiner Weiterfahrt einkehrte, um Gottes Beistand für die große Reise zu erbitten. 

Kunstvoll ist der Altar geschnitzt, das Deckengewölbe im feinsten Mudéjar-Stil. Die nächsten Tage wird die Kirche die Jungfrau beherbergen – so wie das immer seit 1872 der Fall ist, als der Bischof von Teneriffa die erste Bajada organisierte. Sie sollte den Glauben stärken, mit dem es damals nicht zum Besten bestellt gewesen sein soll. So hört man jedenfalls.

Das gilt auch heute wieder. Der sonntägliche Kirchgang gehört auch auf La Gomera längst nicht mehr zum Pflichtprogramm. Am Festtag aber platzt das Gotteshaus aus allen Nähten. Die Menschen stehen sogar draußen vor den Toren, um der Predigt von Bischof Bernardo Álvarez Afonso zu lauschen. Als „Perla pretiosa“ lobt er die kleine Marienfigur: als kostbare Perle, die jetzt für alle sichtbar inmitten der Kirche stehe. Als Königin des Glaubens aber auch, die noch immer Vorbild sein könne. 

Zur Familie zurückgekehrt

In den Restaurants und Kneipen rüstet man sich derweil für eine lange Nacht. An der Uferpromenade spielen Kapellen zum Tanz auf. Jung und Alt bringt die Bajada so zusammen. Tausende, die in aller Welt Arbeit gefunden haben, sind zur Festwoche zu ihren Familien nach San Sebastián zurückgekehrt. Ausstellungen und Konzerte locken, Kunst und Kultur, wie sie in dieser Dichte sonst kaum auf der Insel geboten werden. 

Manche haben sich zum Fest eine neue Tracht angeschafft, wollen zeigen, wer sie sind. Für andere hat es nur zu einem gestickten Schultertuch oder einem neuen Strohhut gereicht. Voller Freude wird der geschwenkt, wann immer die Jungfrau ins Blickfeld rückt. Bis Mitte Dezember wird das noch öfter auf La Gomera der Fall sein, ehe die Virgen de Guadalupe wieder in ihr Kirchlein am Meer zurückkehrt.

Günter Schenk